Wissenschaftliche Zeitlichkeiten der Moderne im Spiegel des Anthropozäns

Universität Konstanz

23.–25. September 2020

Workshop für Nachwuchswissenschaftler*innen

Mit der Ausrufung des Anthropozäns wurde der Moderne eine neue Zeitlichkeit eingeschrieben, die den Menschen in geologische Formationsprozesse einbettet und nichtmenschliche Zeitskalen in den Vordergrund rückt. Oftmals datiert im 19. Jahrhundert, korrespondiert der vermeintliche Beginn des Anthropozäns mit einem Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaften, durch den Zeit zum zentralen Definiens der Moderne wurde. Die Geologie ,entdeckte‘ die Tiefenzeit, die Evolutionsbiologie skalierte die  Entwicklung von Lebewesen neu, die Gesetze der Thermodynamik fundierten die Definition eines linearen Zeitpfeils und die Philosophie und Geschichtswissenschaft setzten sich intensiv mit einer diagnostizierten Krise geschichtlicher Zeitlichkeit auseinander. So zeichnet sich das 19. Jahrhundert durch eine Vervielfältigung wissenschaftlicher Zeitlichkeiten ab, die das Verhältnis von Natur-, Lebens- und Geisteswissenschaften nachhaltig geprägt hat. Denn diese ‚neuen‘ Zeitlichkeiten lösten dabei nicht einfach ältere Formen ab, sondern erweiterten das Spektrum des Zeitdenkens und ermöglichten so entscheidend die Schärfung disziplinärer Grenzen und Selbstverständnisse. In der Folge bildete sich der Hiatus zwischen den empirische Naturforschung betreibenden Natur- und den diesen gegenübergestellten anthropozentrischen Geisteswissenschaften aus, dessen Nachwirkungen bis heute andauern.

Eben diesen wissenschaftlichen Zeitlichkeiten möchte sich der Workshop widmen und eine Brücke zwischen den ‚zwei Kulturen‘ schlagen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach disziplinspezifischen temporalen Ordnungssystemen, nach ihren Konjunkturen und dem Grad ihrer fachübergreifenden Produktivität. Bezugnehmend auf das Paradigma des Anthropozäns möchte der Workshop damit Zeitkonzepte unterschiedlicher Wissenschaften in den Fokus rücken und auf ihre epistemische Eigenlogik sowie kontextgebundene Evidenz untersuchen.

Ziel des Workshops ist es, durch den interdisziplinären Austausch zwischen der Wissenschaftsgeschichte, vor allem der Biologie, Anthropologie, Geologie und Physik, der Philosophie wie auch Geschichts-, Literatur- und Kunstwissenschaft für disziplinäre Eigenzeitlichkeiten zu sensibilisieren und die Kategorie Zeit als gleichsam kultur- und naturkonstituierenden Parameter ‚moderner‘ Wissenspraxis greifbar zu machen.

Thematische Leitfragen:

  • Welche Zeitlichkeiten unterliegen dem Konzept des Anthropozäns? Welche Zeitlichkeiten produziert es, welche werden erfahrbar (für wen oder was), welche abstrahiert, welche werden ausgeklammert? Wie werden Zeitlichkeiten kollektiviert/individualisiert/universalisiert/materialisiert?
  • Wie werden die zwei Sphären von Kultur und Natur reflektiert und konstruiert? Werden sie aufeinander bezogen, streng voneinander geschieden, zusammen gedacht, problematisiert?
  • Wie verhalten sich erfahrbare Zeitlichkeiten (z.B. des individuellen Denkens und Handelns) zu übergeordneten Zeitreferenzen (z.B. Epochenkonzepten, Periodisierungsideen, Lebensdauer, Transzendenz-/Immanenzvorstellungen)?
  • Welche Rolle wird der jeweiligen „Wissenschaft“ bei der Konzeptualisierung, Autorisierung, Vermittlung oder auch Herstellung spezifischer Zeitlichkeiten zugesprochen? Inwiefern bieten „Wissenschaften“ spezifische Zeitlichkeitsentwürfe an und wie verhalten sich diese zu anderen Formen des Zeitdenkens und -wissens?
  • Wie tragen die Künste zur Konstruktion von Zeitlichkeiten im sogenannten Anthropozän bei?

Gefördert durch die Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik (GWMT). Workshop-Reihe „Junge Perspektiven.“

Organisation:
Moritz Ingwersen
Sina Steglich

Keynotes:
Erhard Schüttpelz (Universität Siegen)
Henning Schmidgen (Bauhaus-Universität Weimar)
Patrick Stoffel (Leuphana Universität Lüneburg)