Beitragende

Lukas Doil (Universität zu Köln)
„Zukünfte im 'Technozän' – Technikfolgen als Wissensfeld in den 1970er Jahren“

Abstract

In seinem Essay „Das Anthropozän – ein Prozess-Zustand am Rande der Geschichte?“ unternimmt Peter Sloterdijk den Versuch, die Debatte über das Weltzeitalter des „Anthropozäns“ auf ihr historisches und logisches Gehalt hin zu untersuchen. Überraschender als seine individualistisch geprägte Skepsis gegenüber einem handlungsfähigen „Erdenkollektiv“ fällt seine Beobachtung aus, das neue Weltzeitalter sei vielmehr ein von „Europäern initiiertes Technozän“. Lässt man die eurozentristische Perspektive, der Rest der Welt habe sich lediglich „die in Europa entwickelten Techniken angeeignet“, beiseite, lenkt die Begriffsneuschöpfung den Blick auf die enge Verschränkung zweier Diskurse. Zum einen sind die Auswirkungen des Menschen auf seine „Umwelt“ seit den 1960er Jahren in westlichen Gesellschaften intensiv diskutiert worden. Dies ging zum anderen auch einher mit Brüchen in der Technikeuphorie der Nachkriegszeit. Die technologische Entwicklung begann offenkundig kollektive und globale Folgen für Gesellschaften und Natur nach sich zu ziehen. Symbolische Begriffe wie das „Spaceship Earth“ (Ward, Boulding, Fuller), Rachel Carsons „Silent Spring“ oder die „Limits to Growth“ des Club of Romes markieren seither eine Perspektive auf das Verhältnis zwischen Mensch, Technik und Umwelt, die die klassisch-moderne Trennung von Kultur und Natur zunehmend in Frage stellt, und eine krisenhafte Temporalität etabliert hat, in der potentielle Zukünfte zur Intervention in der Gegenwart genutzt werden.

Mein Paper nimmt die Überlegung zu einem „Technozän“ zum Ausgangspunkt, um Diskurse über Technikfolgen in den 1970er Jahren zu historisieren. Wissenschaftliche Debatten über technologische Risiken für Mensch und Natur führten in den USA ab 1967 zu einer Kongressinitiative zur Gründung eines „Office of Technology Assessment“, die 1972 abgeschlossen wurde. Ziel der Institution war die Etablierung eines neuen Forschungsfeldes, das neue und potenzielle Technologien auf ihre möglichen Folgen hin untersuchen und auswerten sollte. Strategisches Wissen über die Zukunft sollte nicht zuletzt der Politik und wissenschaftlichen Experten neue Handlungsfelder öffnen. Netzwerke der OECD-Wissenschaftspolitik transferierten das neue Konzept in Richtung der europäischen „Industrieländer“, wo in der Folge nationale Ableger diskutiert und eingerichtet wurden. Die OECD war in den 70er Jahren ein transnationaler Raum für wissenschaftliche Akteure, die ihre Expertise in eine wachsende Zahl von Veröffentlichungen, Tagungen und Pionierarbeiten einbrachten, um „Technology Assessment“ als emerging field zu etablieren.

Im Fokus des Papers stehen dabei Konstruktionen und Aneignungen von Temporalität in „Technology Assessment“. Dabei wird insbesondere „Wissen“ über Zukünfte und dessen Herstellung analytisch scharfgestellt: Wie verdichteten sich Technikfolgen in den 1970er Jahren zu einem transdisziplinären Wissensfeld? Welche Rolle spielten Zeitstrukturen in der Begründung und Durchführung von Technikbewertungen? Wie wurde das Verhältnis von Mensch, Natur und Technik beschrieben?

Biographische Notiz

Lukas Doil (* 1994) forscht zur Wissensgeschichte von Technikerwartungen in der Zeitgeschichte. Er ist Masterstudent der Neueren Geschichte und wissenschaftliche Hilfskraft am Historischen Institut der Universität zu Köln. Er hat zur Geschlechter-, Politik-, und Wissensgeschichte publiziert und ein Internship am Deutschen Historischen Institut, Washington DC absolviert. Im April 2020 ist er Stipendiat des DHI Paris.

Clara Frysztacka (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder)
„Die Zeit der Geschichte. Temporale Konstruktion des Historischen in der polnischsprachigen Presse 1880-1914”

Abstract

In meinem Beitrag möchte ich mich mit der Konstruktion der historischen Zeit in der polnischen kommerziellen Presse in der Periode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges befassen. Die historische Zeit lässt sich als zentrales kulturelles Konstrukt sowohl für die Entstehung der (europäisch-kolonialen) Moderne als auch für die Verwissenschaftlichung der Geschichte verstehen. Erst mit der „Verzeitlichung

der Geschichte“ – um die Formulierung von Reinhart Koselleck zu übernehmen – entstanden die spezifischen, von der Naturzeit sowie dem Jenseits getrennten temporalen Dimensionen des Historischen und der Moderne jeweils als exklusiver Forschungsgegenstand der modernen Historiographie und als universalisierten Erwartungshorizont der Menschheit. Bei der Erforschung der historischen Zeit bilden Ost(mittel)europa sowie die Presse meistens eine Leerstelle: Während Kosellecks Pionierarbeit ausschließlich auf Texten basierte, die

von westeuropäischen (männlichen) Intellektuellen geschrieben wurden, legen die neuesten Studien ihren Schwerpunkt entweder auf (post)kolonialen historischen Zeitlichkeiten oder auf die Konstruktion der Zeit durch Praktiken, Machtordnungen und (Messungs)Instrumente. Gerade die Untersuchung kollektiver, durch weiträumig zirkulierende Medien (re)produzierter Vorstellungen der historischen Zeit in einer Region wie den polnischen Teilungsgebieten, die weder an der Spitze noch außerhalb der Moderne temporal verortet wurde, ermöglicht allerdings, faszinierende Einblicken in die moderne Konstruktion der historischen (und modernen) Zeitlichkeit zu werfen.

Auf meiner (vor kurzem publizierten) Dissertation fokussiert sich mein Beitrag auf drei Formen der (Re)Produktion historischer Zeit in Zeitschriften: (1) die Periodisierungsvorschläge der polnischen Geschichte, (2) die Prägung dieser Geschichte durch spezifische temporale Richtungen, Rhythmen und relationale Positionen zu anderen Subjekten, insbesondere Europa sowie (3) schließlich die Konstruktion der Gegenwart als von der Vergangenheit getrennter Zeitbereich. Die polnischsprachige Presse fungierte in den drei Teilungsgebieten als zentrales Vehikel historischen Wissens: Im Königreich Polen und Großherzogtum Posen stellten die Zeitschriften eine ‚Ersatzbühne‘ für historiographische Debatten angesichts des Fehlens geschichtswissenschaftlicher Forschungseinrichtungen in polnischer Sprache dar. In Galizien, wo mit den Universitäten von Krakau und Lemberg zwei große Zentren polnischsprachiger Geschichtswissenschaft existierten, spielten unterschiedliche Druckerzeugnisse eine wichtige Rolle für die Verbreitung historischer Bildung sowie für die Schaffung von Geschichtsnarrativen für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Der Beitrag zeigt einerseits, wie die polnischsprachige Presse durch die Datierung mit dem gregorianischen Kalender und Zeitfiguren wie die Aufteilung in Mittelalter und Neuzeit, die Beschleunigung und Entschleunigung, der Vorsprung und die Verspätung oder die Machbarkeit und Übermacht der Geschichte eine moderne lineare Zeitlichkeit des Fortschritts konstruierte, die Polen mit der (west)europäisch-universalisierten Zeit permanent synchronisierte. Andererseits will ich ‚spezifisch-polnische‘ Epochengebilde, historische Zeitlichkeiten und temporale Selbstverortungsformen erörtern, die mit der modernen Zeitlichkeit des Fortschritts teilweise kollidieren oder Polen eine besondere Stellung darin zuschreiben. Im Beitrag werden somit die Dynamiken der Konstruktion der historischen Zeit in der Moderne ausgelotet und zugleich deren Positionalität reflektiert, bzw. gefragt, inwieweit Ost(mittel)europa und insbesondere die polnischen Teilungsgebiete sich als spezifischer epistemischer Standort für die Konstruktion der Temporalität des Historischen begreifen lassen.

Biographische Notiz

Clara Frysztacka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für europäische Zeitgeschichte der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder). Sie hat in Mailand und Berlin Neue und Neueste Geschichte und Osteuropastudien studiert und in Siegen bei Prof. Dr. Claudia Kraft im Rahmen des Forschungsprojektes „Geschichte für alle in europäischen Zeitschriften“, gefördert von der Gerda Henkel Stiftung, promoviert. Die Dissertationsschrift mit dem Titel „Zeit-Schriften. Die Konstruktion der historischen Zeit in der Moderne am Beispiel der polnischsprachigen Wochenpresse ‚für viele‘ am Ende des langen 19. Jahrhunderts“ wurde 2018 erfolgreich (summa cum laude) verteidigt und bekam vier wissenschaftliche Preisen (Preis der Botschafter der Republik Polen, Klaus-Mehnert Preis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Historikerpreis der Dirlmeier Stiftung, Bachtin-Lefebvre Prize for Studies in SpatioTemporality). Die Monographie ist im Januar 2020 in der Reihe Spatiotemporality/Raumzeitlichkeit beim De Gruyter Verlag erschien. Weitere Forschungsprojekte/Schwerpunkten von Clara Frysztacka sind die Frage der Postkolonialität Osteuropas, der Ambivalenzen der Europaidee/ die Frage von Europa und Kritik (beide im Rahmen der Viadrina Institut für Europastudien) sowie neulich die verschiedenen Dimensionen der Zäsur der 70er Jahre in Italien (Habilprojekt)

Justus Pötzsch (Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
„(Re)Synchronisierung auf dem Boden der Tatsachen? Die Pedosphäre als Übersetzungsregion anthropologischer und geologischer Zeitlichkeit“

Abstract

Die von Bruno Latour diagnostizierte ‚große Trennung‘ als Schlüsselmoment der Moderne, das Divergieren von einerseits menschlicher Kultur und andererseits nicht-menschlicher Natur, die Herauslösung des Anthropos aus theologischen und (nat)ursprünglichen Sinnstrukturen kann aus chronologischer Perspektive auch als eine Art Priorisierung humaner Lebenszeit statt natürlicher bzw. kosmologischer Weltzeit begriffen werden. Diese chronologische Ordnung dominierte bisher die Neuzeit. Doch spätestens seit der Jahrtausendwende wird die Divergenz kultureller und natürlicher Chronologie herausgefordert. Das von Crutzen und Stoermer auf dem Gipfel menschlicher Handlungsmacht so benannte Zeitalter des Anthropozäns, lassen Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte erneut konvergieren. Diese Konvergenz deutet sich in drei möglichen Szenarien an.

Erstens scheint sich in der Vorstellung des ‚good anthropocene‘, einer technologisch vollständig von den natürlichen Fesseln befreiten menschlichen Spezies, die ‚central role of mankind‘ durch gottgleiche Gestaltungsmacht des Planeten und auch seiner Tages-, Saison- und Klimazyklen auszudrücken. Künstliche Beleuchtung, industrielle Landwirtschaft und von Treibhausgasen befeuerte globale Erwärmung lassen Tages-, Jahres- und geologische Rhythmen zunehmend nach anthropogenem Takt und Maßstab ablaufen. Doch geht, zweitens, diese erneute Konvergenz, eine potentielle Resynchronisierung, sehr viel wahrscheinlicher mit dem Ende der Menschheitsgeschichte einher. Die planetare Präsenzzeit des homo sapiens scheint sich nämlich rapide zu reduzieren, da seine vermeintliche Macht über Natur und Erdsystem vordergründig in Form destruktiver und eskalierender Phänomene (Klimakatastrophe, Ökosystemkollaps, Extremwetterereignisse und Artensterben) erkennbar wird. Die Verbindung von menschlicher und ökologischer Sphäre im ‚bad anthropocene‘ läuft somit auf eine Auslöschung beider Welten, ein Beendigung humaner und planetarer Geschichte hinaus. Eine dritte Form der Synchronisierung von humaner und planetarer Sphäre liegt in einer gegensätzlichen Deutung, dem ‚post-anthropocene‘, welche betont, dass sich, statt den Planeten an menschliche Beschleunigungsprozesse und Zeit(Maßstäbe) anzupassen, der Mensch viel eher wieder an ökologischen Rhythmen orientieren und auf natürliche Zyklen einlassen sollte. Diese Idee wird insbesondere durch Kritik an der entgrenzten, auf ökonomischem Wachstum basierenden, Fortschrittslogik formuliert. In Postwachstumsökonomie, jungem Klimaaktivismus aber auch der traditionellen Umweltbewegung wird häufig die Wiedereingliederung in harmonische Beziehungsformen zu ‚Mutter Natur/Erde‘ als ein rettendes Narrativ der Resynchronisierung von Mensch und Welt vorgeschlagen.

Als Beobachtungs- bzw. Forschungsgegenstand für diese drei potentiellen Sychronisierungsverläufe, bietet sich in besonderer Weise die Pedosphäre als eine chronologische Begegnungsstätte der unterschiedlichen Zeitsysteme an. Der Boden (griech. pédon) gilt als die ‚Haut der Erde‘, wobei seine Gestalt und Durchdringung, seine Umwandlungs- und Umlagerungsprozesse einen reaktiven Interaktions- und Überschneidungsraum bilden, in dem die verschiedenen Geosphären (Litho-, Hydro-, Atmo-, Biosphäre) und die Anthroposphäre aufeinander treffen. Diese Sphärenkonvergenz lässt die unterschiedlichen Zeitsysteme und Funktionslogiken von irdischer und menschlicher Welt in ihren Übersetzungs- und Überschneidungsprozessen sichtbar werden. So ist die Durchdringung der Erdoberfläche zur Gewinnung von fossilen Energieträgern, welche einst in Millionen von Jahren gebildet wurden und dann durch menschliche Nutzung in vergleichsweise winzigen Zeiteinheiten verbrannt werden, auch eine Überführung von Medien der Tiefenzeit in eine anthropogene Chronologie (Parikka). Aber auch humane Geschichte wird jederzeit in Erdgeschichte übersetzt, wenn menschliche Lebewesen und ihre Erzeugnisse wieder ‚zu Staub zerfallen, aus dem sie einst entstanden‘ oder als Ichnofossilien nur mehr in versteinerter Form eine Spur in den geologischen Schichten des Planeten hinterlassen (Zalasewicz). Yusoffs Konzept einer ‚geosocial strata‘ und Deleuze/Guattaris Betrachtung multipler ‚(Re/De)Stratifizierungsprozesse‘ erlauben es, eine komplexe Betrachtung der sich gerade bildenden Zeitschichten von Mensch und Erde im Anthropozän abzubilden, welche ich gerne in einem längeren Beitrag ausführen würde.

Biographische Notiz

Justus Pötzsch studierte von 2008 bis 2015 Soziologie und Psychologie an der Technischen Universität Dresden, wobei er Schwerpunkte auf Wissenssoziologie, qualitative Methoden und Philosophische Anthropologie legte. Er schloss sein Studium mit einer Diplomarbeit zum Thema extraplanetarer Siedlungsbestrebungen ab, welche unter dem Titel „Auf zwei Planeten? Sozialwissenschaftliche Analyse interplanetarer Siedlungsprojekte am Beispiel ‚Mars One‘“ (Berlin: Logos 2016) veröffentlicht wurde. Seit 2017 promoviert Justus Pötzsch in einem DFG-geförderten Graduiertenkolleg, welches sich der interdisziplinären Bearbeitung von Grenzerfahrungen des Lebens im Zuge des technologischen Wandels widmet. Das Kolleg „Life Sciences – Life Writing“ (2015/2, JGU/UM Mainz) bietet den institutionellen Hintergrund für seine Dissertation, die sich an den Veränderungen der Mensch-Welt-Beziehung im Anthropozän ausrichtet und insbesondere Transhumanismus und Posthumanismus als neue Konzepte der Rahmung des anthropologischen und planetaren Verhältnisses untersucht. Seine aktuellen Forschungsinteressen siedeln sich im Problemfeld von Wissenssoziologie, Wissenschaftsgeschichte, Anthropologie sowie Science and Technology Studies an. Ab April 2020 wird Justus Pötzsch eine Lehrtätigkeit im Bereich des studium generale der Universität Mainz zu Phänomenen des digitalen Wandels ausüben.

Simon Probst (Universität Vechta)
„Tiefenzeit zwischen Moderne und Anthropozän“

Abstract

Die Tiefenzeit wurde seit ihrer ‚Entdeckung‘ (Gould) in der Anfangszeit der modernen Geologie weit über diese hinaus rezipiert und ermöglichte neue Wahrnehmungen der allgemeinen historischen und kulturellen Zeitlichkeiten. Die Vorstellung einer eigenständigen Erdgeschichte und damit einer ‚Welt ohne Menschen‘ – vor und nach der bekannten Menschheitsgeschichte – bedeutete eine „Säkularisierung und Pluralisierung der Apokalypse“ und trug zur Entwicklung des die Moderne prägenden „posthumanen Klimawandelnarrativs“ bei (Horn und Schnyder 2016: 15f). Die Auseinandersetzung mit der Tiefenzeit in Literatur und Philosophie führte so zur Herausbildung einer ‚transhumanen Perspektive‘, die sich in der ganzen moderne Literatur- und Kulturgeschichte beobachten lässt, in der deutschen z.B. bei Lichtenberg, Goethe, Novalis, Stifter, Droste-Hülshoff, Nietzsche, Jean Paul, Frisch, Handke (vgl. Braungart 2009, Schnyder 2013). Diese Austauschprozesse von geologischen und historisch/kulturellen Zeitlichkeiten sind strukturell durch eine Relativierung der menschlich-historischen Zeit bestimmt. In einer Linie mit den von Freud postulierten drei anthropologischen Kränkungen der Moderne (kopernikanische Wende, Evolutionstheorie, Psychoanalyse) lässt sie sich als eine weitere, diesmal zeitliche, „Marginalisierung“ oder „Dezentrierung“ des Menschen verstehen (Braungart 2009: 56, Schnyder 2013: 76). Diese ‚modernistische‘ Relation von geologischer und historisch/kultureller Zeit beruht auf der Trennung beider Zeitlichkeiten, die dazu führt, dass sie in ihrer ‚Bedeutsamkeit‘ gegeneinander ausgespielt werden. Im Anthropozän-Diskurs, in dem die Geologie eine Art leitwissenschaftliche Funktion übernimmt, gewinnt die Tiefenzeit eine zentrale Bedeutung für die Zeitlichkeiten der Narrative kultureller Selbstbeschreibung (Dürbeck 2018: 15). Mit der Einführung des Menschen in die Geologie, als geophysikalischer Kraft und tiefenzeitlichem Akteur, wird die oppositionelle Gegenüberstellung von menschlich-historischer und tiefenzeitlich-erdgeschichtlicher Zeit problematisch. Das Anthropozän-Konzept bedeutet eine Realisierung der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven, alltäglichen und politischen Handlungen von Menschen Auswirkungen zeitigen, die auf der raumzeitlichen Skala der Geologie von Relevanz sind (vgl. Chakrabarty 2018: 6). Die transhumane Perspektive der Tiefenzeit spielt auch für die Erzählungen des Anthropozän eine Rolle (vgl. Weisman 2007), aber nicht mehr im Modus der bloßen Gegenüberstellung, sondern als Eröffnung der Frage wie sinnvolle, mehr-als-relativierende Beziehungen zwischen geologischer und historisch-kultureller Zeit hergestellt werden können. Diese anthropozäne Relation von Tiefen- und Menschenzeit ist dabei kein reines Gegenwarts-Phänomen – auch wenn sie im derzeitigen Diskurs an Bedeutung gewinnt –, sondern reicht im Sinne der Entwicklung eines „anthropocenic consciousness“ (Kelly 2018: 9), das um die Partizipation der Menschen an der Erdgeschichte weiß bis ins 18./19. Jahrhundert zurück. In der Gegenwart lässt sich eine Intensivierung und Vervielfältigung der Bezüge beider Zeitlichkeiten beobachten, insbesondere durch die Konzeption der Erde als eines Mediums/Buchs, das nicht mehr nur als Archiv der Erdvergangenheit ‚gelesen‘, sondern auch aktiv von Menschen ‚geschrieben‘ wird (vgl. Hüpkes 2019; Boes/Marshall 2014; Parikka 2015), so dass die Bewegung der ‚Säkularisierung der Apokalypse‘ um die der ‚Moralisierung der geologischen Strata‘ und der in sie eingeschriebenen Zeit ergänzt wird (vgl. Zalasiewicz 2008).

Der Beitrag soll die Unterschiede der modernistischen und der anthropozänen Relationierung von Tiefenzeit und menschlichen Zeitlichkeiten beleuchten. Insbesondere sollen dabei Asmus Trautsch Gedicht Die Urwälder Europas (2016) und Peter Handkes Langsame Heimkehr (1979) auf die nicht-relativierenden Relationen von geologischer und menschlicher Zeit untersucht werden.

Zitierte Literatur

Boes, Tobias; Marshall, Kate (2014): »Writing the Anthropocene: An Introduction.« In: Minnesota Review 83, S. 60–72.

Braungart, Georg (2009): »Poetik der Natur. Literatur und Geologie.« In: Thomas Anz (Hg.): Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Paderborn, S. 55–78.

Chakrabarty, Dipesh (2018): »Anthropocene Time.« In: History and Theory 57.1, S. 5–32.

Dürbeck, Gabriele (2018): »Narrative des Anthropozän. Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses.« In: KWG 2.1, S. 1–20.

Gould, Stephen Jay (1990 [1987]): Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München.

Horn, Eva und Schnyder, Peter (2016): »Romantische Klimatologie. Zur Einführung.« In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1, S. 9–18.

Hüpkes, Philip (2019): »Anthropocenic Earth Mediality: On Scaling and Deep Time in the Anthropocene«. In: Gina Comos und Caroline Rosenthal (Hg.): Anglophone Literature and Culture in the Anthropocene. Newcastle upon Tyne, S. 163–180.

Kelly, Jason M. (2018): »Anthropocenes: A Fractured Picture.« In: Jason M. Kelly, Philip Scarpino, Helen Berry, James Syvitskj, Michel Meybeck (Hrsg.): Rivers of the Anthropocene, S. 1–18.

Parikka, Jussi (2015): A Geology of Media. Minneapolis und London.

Schnyder, Peter (2013): »Geologie.« In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, S. 75–79.

Weisman, Alan (2007): The World without Us. New York.

Zalasiewicz, Jan (2008): The Earth after Us. What Legacy will Humans leave in the Rocks. Oxford.

Biographische Notiz

2012–2017 Studium der Germanistik und Philosophie (Ethik) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, (Abschluss mit Auszeichnung)

Seit April 2018 Promotionsstudent bei Gabriele Dürbeck an der Universität Vechta. Arbeitstitel: Die Instauration der Erde. Epistemische Erzählungen des Anthropozän.

Seit November 2018 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Vorträge und Publikationen

„Tiefenzeit und Zeitgenossenschaft. Geologische Poetik im Anthropozän.“ Vortrag gehalten an der Universität Saarbrücken beim Panel „Zeit der Natur“ auf dem 26. Germanistentag am 23.09. 2019; erscheint als Aufsatz in der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik in dem Band Zeit der Natur, hg. von Tanja Prokić und Johannes Pause.

„Esther Kinskys Text-Gelände. Nature Writing in den Verhandlungen des Anthropozän.“ Vortrag gehalten an der Universität Koblenz beim Treffen der Sektion Naturen-Kulturen auf der 5. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft am 22.09.2019; erscheint als Aufsatz in einem Sammelband zu Deutschen Traditionen des Nature Writing, hg. von Christine Kanz und Gabriele Dürbeck.

“Staying with the Ends of the World. Irdische Eschatologie;“ erscheint in der Reihe des DFG-Projekts „Ästhetische Eigenzeiten“ im Band Hinter der Schwelle? Risikonarrative und Eschatologien im Anthropozän, hg. von Steffen Richter und Urs Büttner.

„Text-Umwelt-Provisorien bei Esther Kinsky. Ästhetische Funktionen des Nature Writing im Anthropozän.“ Vortrag an der Universität Wien auf dem Workshop „Poetiken des Anthropozän“ am 09.04.2019.

„Terrestrische Moderne. Einige Beobachtungen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit bei Christoph Ransmayr.“ Vortrag an der Universität Vechta auf dem Workshop „Literatur und Wissen im Anthropozän“ am 26.04.2018.

Tilman Richter (Ruhr-Universität Bochum)
„Akten und Unterschrift. Zu den medialen Voraussetzungen des Verfügens über die Zeit“

Abstract

Die Kennzeichnung der frühen Neuzeit als „Gutenberg-Galaxis“ einerseits oder „Aktenzeitalter“ andererseits macht das quantitative Anwachsen jeweils eines Schriftmediums zum hervorstechenden Charakteristika einer Epoche. Ich möchte vor diesem Hintergrund vorschlagen, mit dem Aufkommen der Diplomatik im 18. Jahrhundert die Praktiken des Umgangs mit den anwachsenden Massen des Schriftlichen in den Blick zu nehmen und auf ihre Bedeutung für die Operationalisierung von Vergangenheit und Zukunft – auch für die folgenden Jahrhunderte – zu befragen.

Vom Beginn des 18. Jahrhunderts an findet sich in den Staaten Mitteleuropas eine Vielzahl von Projekten, deren Ziel es ist, in der Form von Akten- und Urkundensammlungen, den sich formierenden Staaten ihre eigene Vergangenheit zur Verfügung zu stellen. Johann Christian Lünings Teutsches Reichs-Archiv (ab 1710), Johann Gottfried von Meierns Acta pacis Westphalicae (ab 1734) und die verschiedenen, nicht weniger umfangreich angelegten Sammlungen von Johann Jacob und Friedrich Karl Moser vom Beginn der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts belegen dieses Interesse, in dem sich juristische und historische Aspekte überlagern. Juristisch soll das Staatswesen auf einen festen Grund, auf Akten und Archive, gestellt werden, deren Geltung sich historisch herleiten soll. Bewahrung, Pflege und Verwendung dieser medialisierten Vergangenheit sollen nicht länger (wie noch zur Zeit des Westfälischen Friedens) dem Zufall und den ebenso zufälligen Interessen Einzelner überlassen werden, sondern sie werden Staatsangelegenheit. Der neuzeitliche Staat begründet sich derart als ein „Reich der Schriftlichkeit“ (Johannes Burkhardt), das er gleichermaßen hervorbringt wie er ihm von diesem Moment an unterworfen ist.

Dieser An- und Einbindung in Prozeduren der Schriftlichkeit können sich gleichzeitig auch Individuen nicht länger entziehen. Zunächst für Testamente, nach und nach für immer weitere juristische und administrative Angelegenheiten fordern Staaten und ihre Verwaltungen die Schriftform und damit die den Willen wie die Identität der Betreffenden bezeugende Unterschrift. Selbst an höchstgestellte Individuen richtet sich diese bürokratische Forderung; so beispielsweise im Faust: „Des Kaisers Wort ist groß und sichert jede Gift / Doch zur Bekräftigung bedarf’s der edlen Schrift / Bedarf’s der Signatur.“ (2. Teil, IV. Akt) Die Unterschrift bindet den Kaiser wie alle Personen, ihre Hinterlassenschaften und Willensbekundungen in den Apparat der Staatsverwaltung ein.

Diese Verwaltung schafft sich mittels schriftlicher Aufzeichnung eine Vergangenheit, die vom juristischen System, von Bürokratien und auch von der Geschichtswissenschaft für ihre jeweiligen Zwecke mobilisiert werden kann. Der Zeithorizont des Staates ist der Zeithorizont des Papiers, mit dessen Hilfe er regiert. Mit Aktensammlungen und dem identifizierenden Interesse an der Bevölkerung leistet das 18. Jahrhundert Vorarbeit für eine Moderne, die vermittels ihrer Medien die Zirkulation der Ströme von Ressourcen, Informationen und Personen reguliert. Mit meinem Beitrag möchte ich anhand der Diplomatik und der bürokratischen Techniken des 18. Jahrhunderts zeigen, wie Sammlung und Aufzeichnung von Vergangenem und Vorhandenem zum Zweck von Steuerung und Planung die Grundlage für ein Zeitkalkül des Anthropozäns bilden.

Biographische Notiz

Tilman Richter, geboren 1989 in Gütersloh, Studium der „Philosophie, Kulturreflexion und kulturellen Praxis“ (B.A.) an der Universität Witten/Herdecke und der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (M.A.). Seit Oktober 2019 Kollegiat am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarsche. Exzess und Entzug“, Ruhr-Universität Bochum, mit dem Promotionsvorhaben „Unterschreiben. Zur Signatur von Individualität in der Moderne“ (Arbeitstitel).

Lehrtätigkeit mit Seminaren zur „Idee der Universität“, „Sozialfiguren der Kapitalisierung“ und „Körper und Technik“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Witten/Herdecke.

Verschiedene kleinere Veröffentlichungen für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Merkur und Merkur-Blog.

Mariya Savina (HU Berlin)
„Walter Benjamins Eschatologie der Katastrophe. Fortschritt, Unterbrechung und das Ende der Geschichte“

Abstract

Das 19. und das 20. Jahrhundert kennzeichnen sich durch die Entdeckung neuer Zeitformen zur Beschreibung der Welt- und Lebensprozesse. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten innerhalb der Wissenschaften trägt dazu bei, dass auch die Philosophie sich der Zeitfrage widmet und diese erneut reflektiert. So ist die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Philosophie u.a. mit der Umdeutung der klassischen, aus der Theologie stammenden Zeitlichkeit in einem geänderten, modernen Kontext verbunden: Zwar widmet sich die Philosophie der theologischen Tradition des Zeitdenkens, berücksichtigt aber die neuen, mit der Entwicklung der Naturwissenschaften verbundenen Zeitparadigmen. Ein gutes Beispiel solcher Auseinandersetzung mit der Zeit stellt Walter Benjamins Philosophie dar. Einerseits ist sie von einem geologischen Konzept der Tiefenzeit beeinflusst, andererseits richtet sie sich gegen die Gefahr von Entwicklungs- und Fortschrittsideologien, indem sie zur theologischen Grundlage des Zeitdenkens appelliert und die Zeit wie auch die Geschichte mithilfe von Figuren des Ursprungs und der Katastrophe materiell und gegenwärtig begreift.

In den 1930-er Jahren setzt sich Walter Benjamin aktiv mit der Temporalität des Fortschritts sowie mit dem katastrophalen, fortschreitenden Laufe der Geschichte auseinander. Er analysiert die Alltagsphänomene der Moderne, kritisiert das traumähnliche Leben des Menschen und entwickelt seine eigene Fortschritts- und Entwicklungskritik ausgehend aus alternativen Zeitfiguren, nämlich des Ursprungs, der Katastrophe und der Unterbrechung. Im Passagen-Werk assoziiert Benjamin die fortschreitende, stufenartige Linearität des Fortschritts mit der Kreisförmigkeit des sich wiederholenden Mythos, aus dem ein Mensch zur Geschichte auswachen solle. In Über den Begriff der Geschichte verschärft Benjamin seine Fortschrittskritik und kennzeichnet die Situation der fortschreitenden Menschlichkeit als Katastrophe, die die Welt im Ganzen betrifft und das menschliche Sein in seinen kosmischen Maßstäben unter Frage stellt.

Als Mythos unterwirft sich der Fortschritt, so Benjamin, der Temporalität der Wiederholung, die nicht geschichtlich, sondern urgeschichtlich ist. Im Unterschied zum Mythos, fängt die (menschliche) Geschichte nur dann an, wenn die homogene Wiederholung des ‚Schlafes‘ unterbrochen wird, und zwar durch die Anerkennung von Spuren anderer Zeit, d.h. von Spuren der Gewalt und Unterwerfung. Anders formuliert, definiert Benjamin die Geschichte gegenwärtig als Spaltung ihres gegenwärtigen Ursprungs, in dem die Phänomene ihre geschichtliche, materielle Form als vergangene bekommen, als Spuren und Relikten der anderen, vergangenen Epoche. Diese Figur der geschichtlichen Gegenwart formuliert Benjamin nicht nur für eine isolierte Realität der menschlichen Phänomene. Selbst die Erde trägt, so Benjamin, in ihrer Materialität Spuren der (menschlichen) Gewalt, sodass auch die Naturerscheinungen vom menschlichen Handeln und von Zerstörungsakten gestaltet werden.

In meinem Vortrag setze ich mich mit Walter Benjamins Zeitlichkeiten der Moderne, insbesondere mit derjenigen des Fortschritts, auseinander und fokussiere mich dabei auf seine Idee der Katastrophe, um in diesem Kontext die Zwiespältigkeit seines Begriffs der Geschichte zu problematisieren. Es ist einerseits die Geschichte in ihrem gegenwärtigen Ursprung als Entspringen des Neuen, das die neuen Formen (etwa die des menschlichen Seins) zum Leben bringt. Andererseits ist es die Geschichte als Mythos, als permanente und endlose Katastrophe des Werdens und Vergehens, die als solche vom bestimmten, durch den Glauben an Fortschritt und Historismus motivierten Handeln sogar stärker geprägt wird. Verkörpert in materiellen Objekten, setzt die benjaminsche Geschichte eine Zeitlichkeit des Stillstellens, des Unterbrechens des Zeitlaufes vor. Als Prozess unterwirft sie sich jedoch der endlosen, negativen Wiederkehr des gleichen, die in Bezug auf die geschichtliche Gegenwart als ihre Urgeschichte erscheint.

Biographische Notiz

MA Kulturwissenschaft (Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, 2015), MA Philosophie (Freie Universität Berlin, 2020). Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Wissenschaftliche Interessen: Subjekttheorien (Philosophie, Psychologie), Philosophie der Kultur (Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche), Religion und Literatur (Augustinus, Pessoa), Philosophie der Psychologie (Freud, Jung), Französische Philosophie (Derrida).